Lichtschlag Bücher

Leseprobe: Markt und Moral

Für die Marktwirtschaft streiten!

Den Vätern der Marktwirtschaft ging es um eine von Recht und Moral geregelte freie Gesellschaft. Sie waren überzeugt, dass der zu ihrer Zeit in der Scheinblüte stehende sowjetische Totalitarismus keine Zukunft haben wird. Die Geschichte hat ihnen Recht gegeben. Nach der „ungeheuren Schwere“ des gewonnenen Kampfes gegen den Bolschewismus, prophezeite Rüstow238 lange vor dessen Fall, werden wir „schwer erschöpft, aber guten Mutes gemeinsam vor einer kaum übersehbaren Fülle von neuen Aufgaben stehen.“ Rüstows Voraussage ist allerdings zu korrigieren: Der planwirtschaftliche Despotismus wurde nicht besiegt, er ist aufgrund seiner eigenen Schwächen untergegangen. Wir sind zwar erschöpft, aber nicht wegen der intellektuellen Auseinandersetzung mit der kommunistischen Welt, an der sich nach dem Aufruhr der Achtundsechziger nur mehr sehr wenige beteiligt haben, sondern weil der ausufernde Betreuungsstaat einen Teil unserer geistigen Kräfte zerstört und uns träge gemacht hat. So fehlt uns der von Rüstow geforderte gute Mut, die Probleme zielstrebig anzugehen, die unsere freie Lebensweise gefährden. Wer zum Beispiel auf die mögliche große Gefahr hinweist, die gegenwärtig der islamistische Terrorismus und Fundamentalismus offensichtlich für die westlichen Staaten darstellt, der wird in Talkrunden sehr oft der unverantwortlichen Scharfmacherei geziehen.

Es ist die versorgungsstaatliche Veranstaltung selbst, die unser Denken bestimmt und uns in dem Glauben wiegt, Erfolge bei der Lösung von Problemen könnten weniger die Einzelnen als vielmehr die staatlichen Behörden erzielen. So schwindet bei den Menschen die Überzeugung, durch eigene Kraft etwas erreichen zu können. Freiwillig begeben sie sich in die Abhängigkeit des scheinbar allwissenden und allmächtigen Staates.

Deutschland steht heute vor dem schwierigen Problem, dass es selbst unter den Kritikern des Fürsorgestaates nur mehr wenige gibt, die nicht nur seine Exzesse, sondern auch die ihn tragenden Ideen ablehnen. Immer weniger Bürger erkennen, dass es dann, wenn das Prinzip der staatlichen Pseudomildtätigkeit einmal allgemein akzeptiert ist und alle Bereiche erfasst hat, für den Wohlfahrtsstaat keine Grenzen mehr gibt. Gleich dem Goethe’schen Zauberlehrling hat der neuzeitliche Versorgungsstaat eine fast unwiderstehliche Tendenz zum beständigen Wachstum. Die Expansion hat mit der demokratischen Bestrebung zu tun, die in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen entdeckten angeblichen Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten zu beseitigen. So werden von Mal zu Mal umfassendere Hilfen, die nicht selten Zwangshilfen gleichen, gewährt und scheinbar immer vollkommenere Förderprogramme durchgeführt. Den Wohlfahrtsstaat auszudehnen ist nicht nur leicht, sondern für die gewählten Politiker auch ein vortreffliches Mittel, um sich den Ruf, hochherzig und gütig zu sein, zu erwerben und ihren politischen Einfluss zu festigen.

Weil es das abschreckende Beispiel der sozialistischen Planwirtschaft in der unmittelbaren Nachbarschaft nicht mehr gibt, scheint paradoxerweise unsere Marktwirtschaft gefährdeter denn je. Weil die Freiheit nicht mehr vom sowjetischen Despotismus bedroht wird, wächst die Versuchung, auf gerade diese Freiheit im Namen der so genannten sozialen Gerechtigkeit nach und nach zu verzichten. Immer mehr Menschen lassen sich bei der Wahl politischer Parteien vom freiheitszerstörerischen „Trugbild sozialer Gerechtigkeit“ (von Hayek) leiten. Es verwundert nicht, dass nach einem halben Jahrhundert „Godesberger Programm“ die SPD – in der Hoffnung auf Wählerzuspruch – wieder den „demokratischen Sozialismus“ als Zielperspektive in ihr Grundsatzprogramm aufgenommen hat. Bei Licht besehen bedeutet die Parole „demokratischer Sozialismus“, dass das Wirtschaftsgeschehen sozialisiert und dem Schacher der politischen Parteien überantwortet wird. Gewiss will niemand von Parteigremien gegängelt werden und in Unfreiheit leben; aber gleich Traumtänzern sind viele bereit, den Weg der Freiheit zu verlassen. Sie vermögen nicht zu erkennen, dass wir uns gerade angesichts der weltwirtschaftlichen Herausforderungen nicht weiter in den Fallstricken der Umverteilung von Steuergeldern verfangen sollten. Auch wenn die Furcht vor den Folgen der dringend erforderlichen ökonomischen Anpassungen groß ist, müssen wir uns vor den allseits befriedigenden Kompromissen, die den Status quo zu erhalten trachten, in Acht nehmen. Zu Unrecht wird dem pragmatisch handelnden Politiker, der schwierigen Entscheidungen aus dem Weg geht, Klugheit bescheinigt. Aber den Pragmatikern folgen auf dem Fuß die Opportunisten; und zu guter Letzt geben die gesinnungslosen Konformisten den Ton an.

Wir müssen uns dagegen wehren, dass uns wohlmeinende Politiker als Glück und Lebensfreude verkaufen, was sich aller Voraussicht nach als Unglück erweisen wird. Der Untertan des Versorgungsstaates trägt wenig oder nichts zur Stärkung der in diesem Buch erörterten moralischen Ressourcen bei, die vornehmlich unter den Bedingungen einer „natürlichen Ordnung“ (Röpke) heranwachsen. Der moderne Untertan lebt gewissermaßen auf Kosten dieser Ressourcen, wenn er nicht überhaupt ihr Vorhandensein als störend und überflüssig betrachtet. So gilt es, den wohlfahrtsstaatlichen Verlockungen zu widerstehen und den Mut zu einer echten Kehrtwende aufzubringen. Wem das Lebensglück der Menschen ein Anliegen ist, der muss das, was sich als Fortschritt ausgibt, stets daran messen, in welchem Maße – bei ja noch immer guten volkswirtschaftlichen Bedingungen – die Bürger aus eigener Kraft und selbstverantwortlich durch Kapitalbildung und wechselseitige Hilfe ihre Lebensprobleme meistern. Unter den von Krieg und sonstigen Katastrophen seit langem verschont gebliebenen gesellschaftlichen Verhältnissen dürfen freie und mündige Menschen nicht fortgesetzt auf den Staat blicken und sich von ihm die Unterstützung erwarten, die sie ohnehin – auf einem teuren bürokratischen Umweg – mit ihren eigenen Steuern und den Kaufkraftverlusten finanzieren, die die schleichende Geldentwertung verursacht.

Wenn heute sogar Politiker das angeblich schwere Los ihrer Eltern ins Spiel bringen, um darzulegen, wie unzulänglich unser Wohlfahrtsstaat noch immer ist, dann ist das kein Beleg für die Notwendigkeit weiterer öffentlicher Unterstützung, sondern ein erschreckendes Anzeichen dafür, wie sehr unter versorgungsstaatlichen Verhältnissen der Sinn für private, familiäre Hilfe abhandengekommen ist. Die Massenfürsorge zerstört mehr und mehr jene Gemeinschaften und Vereinigungen, die in Notfällen wirkungsvollen und vor allem auch von persönlicher Anteilnahme begleiteten Beistand zu leisten gewillt und imstande sind. Es zeugt von der sorglosen Dreistigkeit der Verteidiger des wohlfahrtsstaatlichen Unternehmens, dass sie den Niedergang dieser naturwüchsigen Hilfe zum Anlass nehmen, diesem Unternehmen noch stärker das Wort zu reden, und dabei die von Röpke239 befürchtete „Gefahr der Erniedrigung des Menschen zum gehorsamen Haustier des großen Staatsstalles“ auf die leichte Schulter nehmen.

[zurück zum Buch]