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Leseprobe: Roter, brauner und grüner Sozialismus

Totalitäres Denken in der Sozialdemokratie

Die Etablierung der von der Französischen Revolution ausgehenden totalitären Strömung in Deutschland manifestiert sich in dem Beschluss des Parteitages der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) von 1890 zu Halle, mit dem Karl Marx laut Parteitagsprotokoll als „unser großer Führer“ angesprochen wurde. Diese Entwicklung hat sich in Deutschland deshalb verhängnisvoll ausgewirkt, weil mit einer SPD, die mit dem beschriebenen demokratischen Totalitarismus schwanger ging, dabei aber gleichzeitig, teilweise sicherlich genuiner Weise, als einzige deutsche Partei des Kaiserreichs den demokratischen Gedanken schon in der (späteren) Namensbezeichnung „sozialdemokratisch“ repräsentierte, keine Parlamentarisierung der Monarchie möglich war. Insbesondere der liberalen Seite, deren Zusammengehen mit der Sozialdemokratie politische Voraussetzung einer Parlamentarisierung hätte sein müssen, erschien das aktive Betreiben einer Demokratisierung des Reichs verständlicherweise zu riskant, da dies zu einer sozialdemokratischen Regierung hätte führen können, von der man befürchten musste, dass sie auf gesamtdeutscher Ebene verwirklichen würde, was sich unter spezifischen historischen Umständen später als „Deutsche Demokratische Republik“ etablieren sollte. Die 1891 vom liberalen Reichstagsabgeordneten Eugen Richter veröffentlichten „Sozialdemokratischen Zukunftsbilder“, die mit großer Plausibilität so etwas wie eine das Deutsche Reich umfassende „DDR“ als Ergebnis einer sozialdemokratischen Regierungsübernahme aufgrund der seinerzeitigen SPD-Programmatik und SPD-Ideologie voraussagten, zeigen an, wie berechtigt die Befürchtungen gegenüber der SPD waren, der von konservativer Seite (Bismarck) ebenfalls vorgeworfen wurde, „ein allgemeines sozialistisches Zuchthaus“ anstreben zu wollen.

     Schuld an dieser Entwicklung, die der Parlamentarisierung der deutschen (und auch skandinavischen) konstitutionellen Monarchien entgegenstand, war nicht erst die formale Übernahme des Marxismus als Parteidoktrin mit dem Erfurter SPD-Programm von 1891, sondern schon die kollektivistische Freiheitskonzeption von Lassalle, die zu einer Abspaltung der Arbeiterbewegung vom (Links-)Liberalismus geführt hatte. Die Erfahrung mit Vertretern des totalitären Demokratiekonzepts hat den Nationalliberalismus sogar veranlasst, von der Idee der Demokratie überhaupt Abstand zu nehmen, um sich stattdessen – erfolgreich – auf die rechtsstaatliche Ausgestaltung des „Obrigkeitsstaates“ zu beschränken. Die deutschen Liberalen, die man um 1848 überwiegend als Demokraten, wenn nicht gar mehrheitlich als Republikaner ansprechen konnte, hatten erkennen müssen, dass demokratische Forderungen auf Errichtung einer deutschen Bundesrepublik und Abschaffung von Adel und Beamtentum sich schnell mit der Forderung nach Vertreibung der Juden verbanden. Dass (Links-) Liberalismus und Lassalle getrennte Wege gehen mussten, wird besonders verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Lassalle sich zur Freiheit des Individuums fast ausschließlich in polemischer Form ausgelassen hat. Er ist stattdessen davon ausgegangen, dass sich in seiner Zukunftsgesellschaft nach Aufhebung der gesellschaftlichen Widersprüche, was er als „Demokratie“ begriff, eine derartige Interessenharmonie einstellen würde, die das Anliegen des Liberalismus als bloß theoretisches erscheinen lassen würde, das heißt wenn alle demokratisch übereinstimmen und somit das Volk frei ist, braucht man keine Individualrechte mehr. In der Kritik an dieser Konstruktion konnte er nur „negativen, ätzenden Individualismus“ und „subjektive, eigenwillige Persönlichkeitssucht“ der liberalen Bourgeoisie erkennen, der er wiederum zum Vorwurf machte, ihren Kapitalbesitz dazu missbraucht zu haben, „die Rechtsgleichheit zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden aufzuheben und die Freiheit des Volkes und seiner Entwicklung dadurch zugunsten des größeren Besitzes und seiner festen Herrschaft zu konfiszieren.“ Da die Arbeiterschaft keine solche „Privilegien“ habe, könne nur sie den wahren Staat verwirklichen – daher „Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein“ (ADAV) – der dann die Freiheit des Volks verwirklicht, indem er einen so großen „Stimmenakkord“ herbeiführt, dass Individualrechte nicht mehr benötigt würden. Auch wenn Lassalle wohl nicht direkt von Marx beeinflusst war, so vertraten beide letztlich doch Analoges, wobei sich diese Parallelität nahezu automatisch einstellt, wenn man bestimmte demokratische oder demokratisch erscheinende Grundkonzeptionen, die in der Französischen Revolution formuliert und auch praktiziert worden waren, einmal akzeptiert hat. Die Ähnlichkeit zeigt sich schließlich im Postulat der Notwendigkeit von Revolution und Diktatur, die bei Lassalle als „Diktatur der Einsicht“ formuliert ist und von denjenigen ausgeübt werden müsse, welche fähig sind, die objektiven Zwecke zu begreifen und zu verwirklichen, also von Menschen, die das „substanzielle Wesen der Freiheit“ erfasst hätten. Mit seiner Konzeption der Übergangsdiktatur, der er vor allem einen erzieherischen Aspekt zuschreibt, bringt sich Lassalle sogar in die Nähe zu Lenin und wohl gar noch mehr zu Hitler! Auch der Revolutionsbegriff trägt gewaltsame Züge, mag sich Lassalle auch darauf hinausgeredet haben, dass Revolution einfach eintrete, wenn „ein ganz neues Prinzip an die Stelle des bestehenden Zustandes gesetzt wird“. Er deutete trotz der Relativierung „gleichviel ob mit oder ohne Gewalt“ an, dass das allgemeine Wahlrecht als gesetzliches Mittel zur Verwirklichung des wahren Staates, nämlich der Errichtung der sozialistischen Führerdiktatur, nicht ausreichen könnte, zumal Lassalle ohnehin seinen Anhängern einschärfte, dass er mit seiner Forderung auf Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts in Wirklichkeit „Revolution“ meine. „Er rechnete namentlich auch mit einer kriegerischen Niederlage Preußens, die zu einem Zusammenbruch der Monarchie und zur Aufrichtung einer auf die Arbeiterschaft gestützten Diktatur führen könnte.“

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