Leseprobe: Ayn RandRands MoriartyIm Verlauf eines von vielen Studenten der Gedanken Ayn Rands besuchten Seminars wurde die Frage gestellt, weshalb Immanuel Kant von Rand für so verabscheuungswürdig gehalten wurde. Die von einem Dozenten dieser Veranstaltung, einem Professor der Ökonomie, gegebene Antwort war, dass Rand einfach ignorant war. Dies jedoch ist nicht wahr. Es wird zweckdienlich sein, zu untersuchen, weshalb Rand Immanuel Kant für eine bösartige Person hielt, nicht nur für eine, die sich philosophisch irrte. Die Angelegenheit Rand versus Kant ist seit einiger Zeit zumindest unter jenen ein Diskussionsthema gewesen, die beiden Denkern eine Bedeutung beimessen, die ihr Studium rechtfertigt. Es kann wenig Zweifel daran geben, dass Kant der ehrgeizigste Philosoph des modernen, post-cartesischen Zeitabschnitts der westlichen Philosophie ist. Unter zeitgenössischen Philosophen wird er auch sehr ernstgenommen, insbesondere in der Ethik und in der Erkenntnistheorie, mehr noch vielleicht sogar als Aristoteles. Als ich von der Antwort auf die Frage des Studenten hörte, weshalb Rand Kant so kritisch sieht, dachte ich, dass man mehr erwarten könne als die Stichelei über die Unkenntnis Rands. Wenn man bereit ist, eine solche Frage zu beantworten, hätte ich zumindest eine vernünftige Mutmaßung erwartet, irgendeinen Rückschluss aus dem, was man über Rand weiß. Angesichts der Häufigkeit, mit der diese Frage in libertären Kreisen auftaucht, könnte das Äu- ßern einiger hilfreicher Worte über das Thema gewinnbringend sein. Wenn wir von dem ausgehen, was Rand tatsächlich über jene Themen denkt, die Kant sehr ausführlich diskutierte, ist der Grund dafür, weshalb sie Kant verabscheute der, dass die Kantsche Philosophie im üblichen Verständnis und in der üblichen Interpretation der meisten derjenigen, die seine Ideen erforschen, die gründlichste, glänzendste, vernichtendste Kritik der menschlichen Vernunft ist, die jemals in der westlichen Philosophie vorgetragen wurde. Üblicherweise werden die Ausführungen Kants so verstanden, dass das, was der menschliche Geist über die Welt begreift, nicht die Welt ist, wie sie ist, sondern wie sie einem speziell strukturierten menschlichen geistigen Vermögen erscheint. Einige sagen, dass diese Darstellung über Kant falsch ist – er habe nur behauptet, dass das, was der menschliche Geist versteht, ebensosehr ein Aspekt der Welt ist wie etwas beliebig anderes, bloß bleibe uns auch immer dann, wenn wir etwas zu verstehen versuchen, vieles verborgen. Tatsächlich deuten einige der posthum veröffentlichten Schriften Kants diesen letzteren, unbekannten Ansatz zum Verständnis der Ansichten Kants an. Rand verstand Kant auf die erste, übliche Weise.137 Kant behauptete, dass der menschliche Geist aufgrund seiner Verfassung – seiner Natur – daran gehindert ist, zu wissen, ob sein Bewusstsein (das heißt, seine primäre Wahrnehmungsleistung) Wissen über die Realität an sich produzieren kann. Vielleicht ist dem so – viele aber meinen, dass wir Kant zufolge darüber nie Sicherheit erlangen würden. Es ist unmöglich zu wissen, dass wir wissen. Es ist eindeutig möglich, dass unser Geist die Realität verzerrt. Wir können nur sicher sein, dass wir die Realität „wissen“ können, wie sie uns erscheint, nicht jedoch, wie sie tatsächlich ist. Kant schien zu glauben, dass dies deswegen so sei, weil von ihm in dem einen Bereich, in dem er die Erlangung von solidem Wissen über die Realität an sich für möglich hielt, nämlich in dem über die Natur des menschlichen Geistes, ein scharfer Trennungsstrich zwischen dem über den Weg der Naturwissenschaft und dem über die kritische Philosophie erlangten Wissen gezogen wurde. Dementsprechend könnte der Rest der Realität – wo wir im Sinne von Bewusstsein nur das haben, was uns die Naturwissenschaft über den Weg unserer möglicherweise verzerrten menschlichen Perspektive präsentiert – sehr wohl etwas anderes sein als das, wofür wir es halten. Und es gibt für uns keine Möglichkeit, dies zu überprüfen, weil die Überprüfung mit unserem Geist stattfindet, der ursprünglichen Quelle unseres Problems. |