Leseprobe: Jede Seite ist die FalscheLockerungsübungen an der TabumuskulaturAlbert Einstein wird immer wieder mit dem Satz zitiert, ein Abend, an dem alle einer Meinung sind, sei ein verlorener Abend. Unter diesem Blickwinkel empfiehlt es sich, die hier vorgelegten Aphorismen Michael Klonovskys abends mit Freunden zu lesen. Dies jedenfalls garantiert, dass es – im Einsteinschen Sinne – kein verlorener Abend wird. Klonovsky ist es augenscheinlich bitter ernst mit seiner These, dass keine Seite die richtige sei. Kaum eine Weltanschauung, kaum eine Überzeugung, kaum ein Glaube an Weltliches oder Außerweltliches bleibt von seiner sprachmächtig-sezierenden Untersuchung verschont. An ihrem jeweils wundesten und empfindlichsten Punkt werden alle behandelten Gedanken und Erscheinungen hemmungslos und ohne jede Selbstzensur gepackt, um sodann unter bedingungslosen Rechtfertigungszwang gesetzt, in ungekannte Relation gestellt oder auch nur ihrer überkommenen Aura entkleidet zu werden. Religiöse und politische Ansichten setzt er – nicht selten deutlich über die traditionellen Grenzen der Salonfähigkeit hinaus – erbarmungsloser Kritik aus. Nationalallergiker, Grüne, Emanzen, Theaterregisseure, 68er, einzelne Zeitgeschichtler und Hirnforscher im Besonderen sind Klonovsky ein Greuel. Insbesondere seine historischen Deutungen weichen regelhaft markant ab von dem, was uns Kindern der Bundesrepublik gemeinhin an Interpretationsvorschlägen unterbreitet wurde. Ob die vorgeschlagene Abweichung trifft oder ihr Ziel verfehlt? Der Leser muss es entscheiden. So geht die Lektüre der vorgelegten Aphorismen unausweichlich in den Zwang über, die jeweiligen eigenen weltanschaulichen Standpunkte einer aufmerksamen Prüfung zu unterziehen – und dies nicht, weil alle Argumente und Sichtweisen Klonovskys in ihrem gegebenen und vorgefundenen Sosein einfach „richtig“ wären, sondern gerade weil sie, im energischsten Sinne, Anstoß geben, sich selbst zu prüfen. Und eben diese Energie lässt sich bekanntlich nicht nur aus Attraktion gewinnen, sondern immer wieder gerade auch durch lesenden Widerspruch. Sollte etwa die kalte Rache einer Todesstrafe tatsächlich die Tat auslöschen? Sollte sich der 11. September 2001 wirklich in der Konsequenz nur eines Bauauftrages erschöpfen? Sind Dessous bloß Tricks des potentiellen Muttertums? Der Leser ist immer wieder aufgefordert, bisweilen geradezu genötigt, sich seinen eigenen Widerspruch zu formulieren und zu begründen. Wenn keine Seite die richtige ist, dann kann folgerichtig auch die eigene nicht die richtige sein. Dessen ist sich Klonovsky durchgängig bewusst. Denn wer weiß, dass das Leben einfach zu kurz ist, „um sich in der Wirklichkeit einzurichten“, der spürt zwangsläufig das Vorläufige, das immer nur Versuchende und beständig Tastende aller eigenen Überlegungen. So besticht, mit welcher selbstkritischen Konsequenz der Journalist Klonovsky auch den eigenen Beruf immer wieder der skeptischen Betrachtung unterzieht. Nur wenige und weniges dagegen besteht vor den allzerlegungsbereiten Blicken dieses Autors. Johann Sebastian Bach beispielsweise. Oder Embryos. So zieht sich ein – allerdings niemals roter – Faden durch seine Betrachtungen; der heißt: Alles und Jedes wird hier anders gesehen und gedeutet, als wir es andernorts ungezählte Male gelesen und gehört hatten. Alles und Jedes wird zur Disposition gestellt. Und Alles und Jedes kann abweichend beurteilt werden – sofern man es denn für richtig hält. Scheu vor Reizworten und Alarmbegriffen kennt er nicht. So erscheint genau diese intellektuelle Übung im Turnen mit den Tabus zuletzt als der eigentliche Kern aller bissig formulierten Provokationen. Eigenes Nachdenken ist allemal wichtiger als unreflektierte Zustimmung. Ob sich mit dem Aphorismus gerade die missdeutungsanfälligste aller literarischen Gattungen dafür eignet, schwierigste Fragen zu stellen und haarigste Themen zu bearbeiten, lässt sich bei aller Freunde über mache Frechheit der Diktion allerdings bezweifeln. Klonovsky stört es nicht. An dieser Flanke ist er greifbar nicht „sorgenbesoffen“, wie er es andernorts der Medienöffentlichkeit vorwirft, sondern eher aristokratisch distanziert. Wer sich auch dann noch zwischen alle Stühle setzt, wenn man ihm nur einen einzigen bietet, den wird Kritik a priori nicht scheren. Sie käme ja ohnehin von der falschen Seite. Was Klonovsky erkennbar zentral reizt und interessiert, ist der forschende, denkende Blick auf die Wirklichkeit: „Man sollte sich wenigstens einen Tag im Jahr dafür freihalten, seine festeste Überzeugung versuchshalber in ihr exaktes Gegenteil zu verkehren; das ist gut für die Lockerung der Denkmuskulatur.“ Jener eine Tag des heuristischen Experimentes könnte dann zugleich münden in den garantiert nicht verlorenen Abend mit Freunden. Danach ist man schlauer. Carlos A. Gebauer |