Lichtschlag Bücher

Leseprobe: Markt und Moral

Die Freiheit auf der Verliererstraße

Eine international vergleichende Untersuchung, die in einigen europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten durchgeführt wurde, hat deutlich gemacht, dass die Deutschen der Freiheit einen vergleichsweise geringen Wert beimessen. Immer mehr Bürger würden, wenn sie sich zwischen Freiheit und Gleichheit zu entscheiden hätten, die Gleichheit wählen. Im Zweifelsfall ziehen in Ostdeutschland sogar 58 Prozent der Menschen die Gleichheit und nur 30 Prozent die Freiheit vor. Es dominiert die Ansicht, mehr gesellschaftliche Aufgaben als bisher müsste der Staat übernehmen und er müsse überhaupt mit weiteren Verboten und Kontrollen in das soziale Geschehen eingreifen. Nach Erhebungen des Allensbacher Institutes für Demoskopie sind heute selbst in den alten Bundesländern viele Menschen, nämlich 45 Prozent, der Ansicht, der Sozialismus sei eine gute Idee, die nur schlecht verwirklicht worden sei; lediglich 27 Prozent widersprechen. Trotz des Desasters, das der real existierende Sozialismus verursacht hat, scheint den Menschen der Gedanke, dass sie selbst ihr Leben besser regeln können als der Staat, allmählich fremd zu werden.

Aber nicht nur der wachsende Glaube an den Sozialismus stellt eine Gefahr für Wirtschaft und Gesellschaft dar. Zerstörerisch wirkt sich auch und nicht zuletzt das immer deutlicher hervortretende Syndrom von Gleichgültigkeit, Laxheit, Respektlosigkeit, Selbstsucht, Enthemmtheit bis hin zu Zerstörungswut aus. Bereits in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat Franz Böhm2 auf „die Gefahr einer fühlbaren Sabotage unserer freiheitlichen und demokratischen Einrichtungen“ hingewiesen. Aus der Gefahr ist längst bitterer Ernst geworden. Nicht zuletzt der rekordverdächtige Alkohol- und Drogenkonsum trägt dazu bei, dass – so Böhm3 – „gewissenlose und entschlossene Störer leichte Arbeit haben, ganz gefährliche Stockungen hervorzubringen.“ Bei den vielen Jugendkrawallen, die es allerorten gibt, ist stets Alkohol im Spiel. Gleichsam als Pars pro toto steht der Alkohol- und Drogenmissbrauch für das Ganze der Misere. Franz M. Oppenheimer4, ein in den USA lebender deutscher Emigrant, hat bereits vor geraumer Zeit die Ursachen der kulturellen Zerrüttung und Auflösung klar erkannt: „Die deutlichen und tatsächlichen Gefahren für die Zukunft der deutschen Kultur und Demokratie liegen wie in den Vereinigten Staaten und dem übrigen Europa (...) nicht beim Nationalismus, der praktisch ausgestorben ist, oder beim Superpatriotismus, der völlig verschwunden ist, sondern im Multikulturismus; nicht im Elitedenken, sondern im Analphabetismus; nicht beim Polizeistaat, sondern in der Kapitulation vor den Kriminellen; nicht beim Antisemitismus, sondern im Verschwinden des Glaubens überhaupt; nicht in der Verehrung des Staates, sondern der Konsumgüter – kurz, tödliche Gefahren sind Konsumismus, ungezügelter Hedonismus und anarchische Nachgiebigkeit. Dort wie hier in all unseren Staaten wurde dem jüdisch-christlichen, abendländischen Erbe der Krieg erklärt, und wir sind dabei, diesen Krieg zu verlieren.“

Die bereits von Wilhelm Röpke5 mit Unbehagen wahrgenommenen „Zeichen kollektiver Verrücktheit“ mehren sich in erschreckendem Maße. Seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt sich in allen gesellschaftlichen Bereichen ein dramatischer Konflikt zwischen traditionellen, arbeitsorientierten Wertvorstellungen und so genannten postmaterialistischen, hedonistischen Wertmustern und Lebensstilen. Gewiss wäre es leichtfertig, ohne Wenn und Aber von einem baldigen Ausverkauf jener Ethik zu sprechen, die dem so ungemein fruchtbaren abendländischen „Geist des Kapitalismus“ (Max Weber) zugrunde liegt. Doch sieht es ganz danach aus, als werde das „moralische Grundwasser“ immer mehr verunreinigt und dadurch unsere Zivilisation geschädigt. Werte waren selbstverständlich auch in der Vergangenheit Änderungen unterworfen. Während der Wertewandel sich früher aber meistens darin äußerte, dass sich Normen an veränderte sozialökonomische und technisch-materielle Verhältnisse anpassten – was durchaus nicht immer reibungslos vor sich ging –, gelingt es vielen Verkündern postmaterialistischer Parolen, Wortführer zu sein und ungeachtet gesellschaftlicher Erfordernisse eine egozentrische, bindungsarme Welt zu bauen. Dabei wird das von Sitte und Moral beschränkte Freiheitsstreben allmählich abgelöst von einem kulturrevolutionären Verlangen nach gänzlich unbehinderter Freiheit, die als uralter Traum von der scheinbar gewinnbringenden Befreiung („Emanzipation“) des Menschen aus den geistig-religiösen und institutionellen Bindungen seines Daseins zum Ausdruck kommt.

Dort, wo es zum „Traditionsbruch“ (Helmut Klages) kommt, wo die Selbstentfaltung in den Mittelpunkt rückt und die Bürde der Kultur nicht mehr weitergegeben wird, tritt allerdings nicht der nun vermeintlich endlich humane Mensch auf den Plan, sondern der nicht domestizierte Barbar. Das moderne Barbarentum geht Hand in Hand mit jenem Fortschritt, der – so Röpke6 – „gleichbedeutend (ist) mit der ständigen Ausdehnung des Bereichs des ,Gemachten’ und, im Geistigen, mit der gleichlaufenden Verbreitung der Überzeugung, dass das erstens ein wirklicher Fortschritt sei, dem der klingende Ehrentitel des ,Modernen’ zukomme, und dass zweitens die Möglichkeiten des ,Machens’ praktisch unbegrenzt seien.“ Dem rationalistischen Machbarkeitsglauben entspricht eine Zurückweisung religiös-transzendentaler Vorstellungen, des Gottesglaubens schlechthin. Weil aber – wie Röpke7 feststellte – der Mensch offensichtlich „nicht in einem religiösen Vakuum leben kann, so klammert er sich an Ersatzreligionen aller Art, an politische Leidenschaften, an Ideologien, an Wunschträume, wenn er (es) nicht vorzieht, sich mit einer bloßen Dynamik des Produzierens und Konsumierens, mit Sport und Wetten, mit Sexualismus, mit Randalieren und Verbrechen und tausend anderen Dingen zu betäuben, von denen unsere Zeitungen voll sind.“ Röpkes8 Fazit, dass „der tiefste Sitz der Krankheit unserer Kultur (...) in der geistigreligiösen Krise (liegt)“, ist nach wie vor gültig.

Wo es keine festen religiösen und sozialen Bindungen, Verpflichtungen und Sicherheiten mehr gibt, herrscht die Ansicht vor, es sei die erste Pflicht des Staates, das Individuum vor den verschiedenen Lebensrisiken zu schützen. Und in der Tat ist der sich mehr und mehr breitmachende Versorgungsstaat nicht bestrebt, dem Menschen die Sorge für sich selbst in Maßen zu erleichtern, sondern sie ihm abzunehmen. Die staatliche Sicherung der materiellen Existenz der Bürger schlägt sich als umfassende Daseinsvorsorge unter anderem durch weitreichende Arbeitsplatzgarantie, enorme Umverteilung von Einkommen sowie durch umfassende Schutzrechte für Arbeitnehmer nieder. Das Ziel der wohlfahrtsstaatlichen Anstrengung ist es, Gleichheit in der Gesellschaft herzustellen. Deshalb kommt auch nicht der freiheitliche Grundsatz der Subsidiarität, sondern das kollektivistische Solidaritätsprinzip zum Tragen. Weil eine möglichst weitgehende Ergebnisgleichheit angestrebt wird, die scheinbar den zerstörerischen Neid zum Verschwinden bringt, traut man staatlicher Politik mehr zu als privater Initiative. So wird der marktwirtschaftliche Wettbewerb, das vortreffliche Instrument der Machtkontrolle wie Machteindämmung und die effiziente Quelle breiten, aber – den unterschiedlichen Bemühungen entsprechend – eben ungleich verteilten Wohlstandes, durch zahlreiche Eingriffe den versorgungsstaatlichen Anliegen unterworfen. Ein hybrider Machbarkeitsglaube suggeriert dabei, es sei möglich, das soziale und wirtschaftliche Geschehen in einer Weise zu lenken, wie der einzelne Bürger seine privaten Pläne zu verwirklichen trachtet. Der von einem realitätsblinden Fortschrittsdenken getriebene moderne Prometheus meint, alles das, was er sich wünsche, auch vollbringen zu können. Es nähme nicht wunder, wenn angesichts der chronischen Arbeitslosigkeit Politiker die zu Beginn der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gescheiterte Politik der von John M. Keynes inspirierten Globalsteuerung wieder ins Spiel brächten.

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