Leseprobe: Ayn RandDie Befreiung des AtlasIm Jahre 1951 kehrten Rand und O’Connor nach New York City zurück, wo Rand ihr nächstes Romanprojekt, „Atlas Shrugged“, in Angriff nahm. Die Idee für diesen Roman kam ihr bereits 1943, als sie die Philosophie des „Fountainhead“ mit einer Bekannten diskutierte, die meinte, dass Rand ihre Leser doch mit einer nicht-fiktionalen Version ihrer Moralphilosophie beglücken sollte. Rand entgegnete, dass ihr Anliegen eigentlich jedem aufmerksamen Leser ihrer Prosa klar sein müsste. Doch während sie über diese Idee nachdachte, stellte sich ihr schließlich die Frage, was eigentlich geschehen würde, wenn alle kreativen Menschen aus Protest gegen staatliche Zumutungen in einen Streik treten würden. Dies, rief sie aus, würde einen guten Roman abgeben! Auch ihr Mann pflichtete ihr bei und meinte, dass dies in der Tat der Stoff für ein wunderbares Buch sein würde. Rand dachte, dass dies ein relativ kurzes Werk werden müsste. Ein Buch, das von Wirtschaft handelt, das die Philosophie des „Fountainhead“ illustriert und aufzeigt, dass Kapitalismus und Wirtschaft auf dem Verstand beruhten. Doch je mehr Rand nachdachte, desto mehr dehnte sich der Romaninhalt aus. Am Ende beinhaltete das Buch ein weites Spektrum von Themen, darunter Metaphysik, Politik und romantische Liebe. Sie dachte zunächst, dass sie nur zwei Jahre daran schreiben würde, doch tatsächlich dauerte es ganze 14 Jahre, bis der Roman fertig war. Und rückblickend sollte später einmal „The Fountainhead“ lediglich als eine Art Vorspiel zu diesem neuen Buch anmuten. Am Anfang gab sie ihrem Roman den Arbeitstitel „Der Streik“, doch schließlich wurde er in „Atlas Shrugged“ („Atlas zuckte mit den Schultern“) umbenannt. Die Geschichte von „Atlas Shrugged“ erzählt von fähigen und leistungsstarken Männern und Frauen, die von einem kollektivistisch denkenden Umfeld behindert werden, einem Umfeld, in dem man sich weigert, den Wert der eigentlichen Leistungsträger anzuerkennen. Die Geschichte beginnt mit einem verfallenden New York. Die Ideologie der herrschenden Politiker und Salon-Intellektuellen im Roman sieht vor, dass das Individuum zurückzustecken und seine persönlichen Wünsche hintanzustellen habe – zum Wohle des „großen Ganzen“. Doch die Lebensbedingungen werden immer schlechter, was nach herrschender und veröffentlichter Meinung daran liegt, dass immer noch zu viele Unternehmer mehr an sich selbst als an das Gemeinwohl denken. Der Generator des Wohlstands fährt allmählich herunter, aber kaum jemandem ist bewusst, woran das liegt. Vor diesem Szenario wollte Rand ihre gesamte Philosophie präsentieren. Die vordergründige Handlung des Romans lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Hauptheldin, die intelligente, selbstbewusste, fleißige und unnahbar schöne Dagny Taggart, betreibt zusammen mit ihrem Bruder James eine Eisenbahngesellschaft. Während Dagny an vorderster Front das operative Geschäft führt, ist James für die Kontaktpflege mit dem politischen und gewerkschaftlichen Establishment zuständig. Die Politiker sind der Ansicht, dass die Unternehmen viel mehr zur Herstellung von sozialer Gerechtigkeit in die Pflicht genommen werden sollten, und planen immer neue Gesetze und Maßnahmen, um den grassierenden wirtschaftlichen Niedergang des Landes aufzuhalten. Auch in fast allen anderen Ländern der Erde besteht die Antwort auf die Weltwirtschaftskrise in der Einführung sozialistischer „New Deals“, wobei nach Ansicht von Dagny Taggart die Symptome mit der Ursache bekämpft werden und somit der Zug in den Ruin nur noch beschleunigt wird. Unter den Intellektuellen macht sich zudem eine Ideologie des Werterelativismus und eines menschenfeindlichen Umweltnihilismus breit: Der Mensch müsse von der Politik zur Genügsamkeit erzogen und in die Schranken gewiesen werden, Gleichheit auf niedrigem Niveau sei daher ein erstrebenswertes politisches Ziel. Dem wirtschaftlichen Verfall begegnen die meisten Menschen mit Lethargie, Resignation und Defätismus. Die Redewendung mit unbekannter Herkunft „Wer ist John Galt?“ bedeutet soviel wie „Was kümmert’s mich?“ Derweil verschwinden immer mehr gegängelte Unternehmer in den Untergrund oder frönen einem Leben im Jetset, wie der argentinische Rohstoffminenbesitzer und frühere Jugendfreund von Dagny Francisco d’Anconia. D’Anconia verleitet Dagnys Bruder James und dessen Regierungsfreunde dazu, ihr von der staatlichen Notenpresse generiertes Papierdollarvermögen in eine noch wertlosere mexikanische Mine zu investieren. Doch Dagny Taggart fühlt sich ihrem Unternehmen verpflichtet und schafft es unter größten Anstrengungen, die Hürden der Politik zu umschiffen, unter anderem indem sie einen von dem genialen Unternehmer Hank Rearden entwickelten Spezialstahl für eine ihrer Eisenbahnlinien verwendet. Der etablierten und längst mit dem Staat klüngelnden Stahlindustrie ist jedoch der günstig herzustellende und extrem haltbare Rearden-Stahl ein Dorn im Auge, und sie drängt darauf, das Patent dafür allen Herstellern zugänglich zu machen oder besser noch diesen Stahl ganz zu verbieten. Schließlich koste es ja Arbeitsplätze, wenn durch technische Neuerungen Kosten und Personal eingespart werden können. Nach der Jungfernfahrt der ersten Eisenbahnlinie mit Rearden-Stahl verbringen Rearden und Taggart eine stürmische Nacht miteinander und werden ein heimliches Liebespaar. Rearden ist verheiratet, aber mit einer Gattin gesegnet, die zwar den von ihrem Ehemann generierten Wohlstand durchaus zu schätzen weiß, etwa um Empfänge für das sozialistische Establishment zu geben, jedoch das Geschäftstreiben ihres Mannes verachtet. Nichtsdestotrotz begreift Rearden erst spät, dass es nicht seine moralische Pflicht ist, loyal zu seiner undankbaren Ehefrau zu sein. Rearden und Taggart entdecken derweil den Bauplan für einen genialen Energieerzeugungsmotor und machen sich auf die Suche nach dem Erfinder. Dieser, so stellt sich später heraus, heißt John Galt und hat in einem verborgenen Tal in den Rocky Mountains die größten Leistungsträger des Landes versammelt, die sich dem Zugriff der Politik entzogen haben und sozusagen in den Streik getreten sind, was den Verfall des Landes enorm beschleunigt. Das Tal des John Galt ist das Utopia einer idealen Gesellschaft von idealen Menschen, denen Untugenden wie Neid und Machtsucht fremd sind. Nachdem Dagny Taggart es geschafft hat, in das Tal einzudringen, trifft sie dort neben vielen anderen alten Bekannten auch Francisco d’Anconia wieder, der den Playboy nur zur Tarnung gespielt hatte und der es in einem Akt heldenhafter Selbstbeherrschung verwunden hat, dass seine Jugendfreundin eine Liaison mit Hank Rearden eingegangen ist. Dabei wird nicht ganz klar, warum Dagny Taggart und Hank Rearden nicht schon früher von John Galt und seinen Komplizen eingeweiht worden waren, was allen Beteiligten einiges an Komplikationen und Enttäuschungen erspart hätte. |