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Leseprobe: Der Gesundheits-Affront

Einwurf: Der Gesundheits-Affront

Viele Menschen haben sich angewöhnt, leichthin von „Gesundheitspolitik“ zu sprechen, ohne dabei noch die existentielle Bedeutung dieses Begriffes für jedermann zu spüren. Worum nämlich geht es bei aller Gesundheitspolitik? Es geht einerseits um die Gesundheit – und damit um das Leben – eines jeden einzelnen Menschen. Und es geht andererseits um Politik, also um die Belange der sogenannten Allgemeinheit. Gesundheitspolitik ist demnach stets eine Gratwanderung, ein Grenzgang zwischen individueller körperlicher Integrität hier und öffentlichen Interessen dort.

Wer aber könnte bei genauer Betrachtung dieser Abgrenzungsfrage ernstlich annehmen, dass im Konfliktfalle die – niemals scharf und deutlich definierbaren – öffentlichen Interessen hinter denen der individuellen Gesundheit zurückstehen würden? Nicht nur in der politischen Rhetorik, sondern insbesondere auch in der ganz praktischen, alltäglichen juristischen Vorstellungswelt haben einzelne Rechtspositionen des Individuums immer dann zurückzustehen, wenn überragende Interessen des Gemeinwohls dies fordern. Diesem Argumentationstopos vom Allgemeinwohlinteresse kann auch bei Gericht üblicherweise nichts und niemand widerstehen.

Der Vorrang des – wie auch immer verstandenen – Gemeinwohles vor dem Recht des einzelnen lässt sich allerdings weder im allgemeinen politischen Geschäft, noch gar im spezifischen Wahlkampfgeschehen gedeihlich instrumentalisieren. Denn welcher Wähler würde bezogen auf seinen eigenen Körper und dessen Integrität bewusst und willentlich allgemeinen Finanzierungs- oder Stabilitätskriterien eines staatlichen Gesundheitssystems den Primat zubilligen? Folglich muss die propagandistische Darstellung des Systems zum einen den vermeintlichen individuellen Vorteil der staatlichen Gesundheitspolitik für den Einzelnen in den Vordergrund rücken; er erhalte – heißt es dann – die beste oder zumindest bestmögliche medizinische Versorgung. Zum anderen flüchtet sich das staatliche Gesundheitspolitikmarketing dort, wo die Konfliktlinien des Verteilungsund Zuteilungsgeschehens unausweichlich gar zu sichtbar würden, in terminologischer Verwirrung und Verdunklung.

So suggeriert die tagtäglich allüberall millionenfach verbreitete – und meist auch noch unbedacht kolportierte – Rede von der „gesetzlichen Krankenversicherung“, dass ihre (als „Pflichtmitglieder“ bezeichneten) Zwangsmitglieder staatlicherseits gegen Krankheit versichert wären. Die psychologische Schlagkraft dieser Terminologie darf nach mehr als einem Jahrhundert ihres Gebrauches nicht unterschätzt werden: Welches Zwangsmitglied einer Behörde namens „Krankenkasse“ hat sich wohl je bewusst gemacht, kein Versicherungsnehmer einer regulären Versicherung zu sein? Wem ist klar, dass er an seine Kasse keine Versicherungsprämien zahlt, sondern faktisch eine weitere lohn- und einkommensabhängige Sondersteuer? Und wer hat sich jemals vergegenwärtigt, dass eine „Krankenversicherung“ in Wahrheit immer nur ein Schutz gegen Krankheitskosten, niemals aber gegen Krankheit selbst sein kann? In einem Rechtssystem, das wettbewerbs- und gewerberechtlich streng terminologische Klarheit und Wahrheit fordert, muss die Duldung dieser begrifflichen Undeutlichkeiten befremden.

Wer seinen analytischen Blick einmal auf diese sozialversicherungsrechtlichen Camouflage-Begriffe gerichtet hat, der entdeckt bald, dass das gesetzliche Gesundheitssystem von ihnen weithin durchzogen ist. Ärzte beispielsweise, die sich freiberuflich niederlassen, um innerhalb dieses Systems ihre Patienten zu behandeln, heißen inzwischen nicht mehr Kassenarzt, sondern „Vertragsarzt“, obwohl sie weder mit ihrer Ärztekammer, noch mit ihrer Kassenärztlichen Vereinigung, noch auch mit ihren Patienten selbst Verträge schließen. Ihre Rechtsbeziehungen zu Ärztekammer und Kassenärztlicher Vereinigung sind vielmehr ebenso öffentlich-rechtlich geregelt, wie die zu ihren Patienten. Der Kranke hat keinen dienstvertraglichen Behandlungsanspruch gegen seinen Arzt, sondern lediglich einen subjektiven, öffentlich- rahmenrechtlichen Leistungsgewährungsanspruch gegen eine öffentlich-rechtliche Körperschaft namens Krankenkasse, deren Mitglied er ist und die diesen wenig deutlichen Anspruch im Rahmen des Sachleistungsprinzips indirekt mit Hilfe der Kassenärztlichen Vereinigung durch deren angehörige Ärzte erfüllt.

Manch einer mag meinen, im Vergleich zu diesen sozialversicherungsrechtlichen Begrifflichkeiten und Organisationsschemata wirkt der Turmbau zu Babel wie eine Konferenz in Esperanto. Und tatsächlich haben sich die vielen Akteure dieses Lebensbereiches inzwischen entweder in ihren qualitätsgesicherten Handlungspfaden rettungslos verlaufen, oder aber sie sind eifrig damit befasst, ihre eigenen Stellungen durch noch mehr kompetenzzentrierte Exzellenz reformsicher zu bewehren. Darum, einen einzelnen, armen, kranken Hilflosen medizinisch zu versorgen, geht es an der Versorgungsfront schon lange nicht mehr. Den dergestalt Schwachen gibt es praktisch nur noch in den Sonntagsreden der Sozialpolitiker. In der Realität wird jedem Patienten schon lange ganz unabhängig von der Frage nach seiner Zahlungsfähigkeit geholfen. Jedem.

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