Leseprobe: Markt oder BefehlChristlicher Glaube und Liberalismus: unvereinbar?Die meisten Liberalen (Libertären) der westlichen Welt vertreten die Exklusionsthese, welche besagt, daß im Liberalismus als einer säkularen Weltanschauung kein Platz sei für programmatische Aussagen religiöser Natur. Religion - und das ist im Abendland (und Geburtskontinent des Liberalismus) gleichzusetzen mit christlichem Glauben - sei Privatsache und stehe in keinem notwendigen Zusammenhang mit der Freiheitsidee des klassischen Liberalismus oder des modernen libertarianism. Das mag für den Liberalen als Einzelperson eine mögliche Option sein, für den Liberalismus als angestrebte gesellschaftliche Ordnung ist es das nicht. Die fundamentalen Axiome und Prinzipien des Liberalismus- wie Individualismus (Bedeutung der einzelnen Person und deren Entscheidungsautonomie und Eigenverantwortlichkeit), Gleichheit vor dem Recht, Vertragstreue und Eigentum sowie seine elementaren Forderungen wie ‘Schade niemandem’ und ‘Wende keinen willkürlichen Zwang an’, haben ihre Wurzeln und Fundamente (nicht ausschließlich, aber schwergewichtig) in der christlichen Lehre. Und das bedeutet auch, daß der Liberalismus auf diese religiöse Grundlage angewiesen bleibt. Abstrakte Prinzipien in Form einer rationalen oder rationalisierten Deontologie der Freiheit sind in unserer „zweitbesten Welt mit zweitbestenMenschen“ (Herbert Giersch) zu anspruchsvoll, um eine freiheitliche Ordnung begründen und dauerhaft aufrechterhalten zu können. Besagte Normen und Verhaltensregeln bedürfen - neben der ratio (die sich diesbezüglich sogar manchmal als Feind erweisen kann) - der allgemeinen Verinnerlichung und tiefer Verwurzelung bei der Mehrzahl derjenigen, die eine freie Gesellschaft bilden wollen. Solche dauerhafte Verankerung kann nur Religion leisten. Christliche Grundwerte müssen deshalb in einer Art partnerschaftlicher Union der säkularisierten Weltanschauung des Liberalismus verbunden bleiben. Der christliche Glaube sollte hierbei jedoch keineswegs nur funktional als eine Art nützliche Hilfskrücke bei der Bewahrung freier Gesellschaften gesehen werden, sondern vielmehr als Essenz der Freiheit. Persönliche Freiheit (und es gibt keine andere Freiheit!) und ihre Bedingung, die persönliche Verantwortung (und es gibt keine andere Verantwortung!), entstehen aus Pflichten-Erkenntnis. Wie aber entwickelt sich Pflichten-Erkenntnis? Immanuel Kant gibt uns die Antwort, indem er Religion charakterisiert als „Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttliche Gebote“. Auch ist der christliche Glaube keine „Einschränkung der Freiheit“, wie dies oft zu hören ist. Der (echte) Liberale, der jede Herrschaft von Menschen über Menschen ablehnt, weil sie stets Ausbeutung, Unterdrückung, Willkür, Entwürdigung, Zwang, Entmündigung und Knebelung des freien Willens bedeutet (wobei ‘Herrschaft’ nicht mit gewachsenen Autoritäten verwechselt werden darf), kann sich durchaus der Herrschaft - besser: Autorität - des christlichen Gottes unterwerfen, weil diese nichts mit Ausbeutung, Unterdrückung, Entwürdigung, Entmündigung oder Knebelung des freien Willens zu tun hat, sondern eine Herrschaft der Liebe ist und die eigentliche Befreiung von menschlicher Willkür, und weil die Gotteskindschaft dem Menschen erst seine größte Würde und seine höchstmögliche Mündigkeit verleiht. Für die Menschenwürde und den Freiheitsanspruch des homo sapiens auf Nichtverletzung durch seinesgleichen gibt es letztlich nur eine einzige unwiderlegbare Rechtfertigung, und das ist die Gottesgeschöpflichkeit des Menschen (auch wenn sich diese meistens die scheinbar neutralere Bezeichnung ‘Naturrecht’ zulegt). Die Realität lehrt uns oft besser als die abstrakte Theorie, daß Christentum und Freiheit aufeinander bezogen und aufeinander angewiesen sind, indem stets beide entweder miteinander bestehen oder miteinander niedergehen. Es ist kein Zufall, daß im Verlauf des 20. Jahrhunderts in allen totalitären und sozialistischen Zwangsstaaten der Erde zugleich mit der Freiheit auch die göttliche Botschaft ausgelöscht wurde. Es ist auch kein Zufall, daß in den halbsozialistischen Wohlfahrtsstaaten Europas die Kirchen leer geworden sind, sowie persönliches Mitleid und private Karitas dem „sozial“-kleptokratischen Umverteilungsbefehl des Staates gewichen sind. Und es ist ebenfalls kein Zufall, daß im relativ freiheitlichsten Land der Erde, den USA, das Christentum lebendiger geblieben ist als auf seinem angestammten Kontinent. Kollektive (oder „soziale“ oder sozialistische) Verantwortung und kollektives Mitleid kann es nicht geben. So wie der auf diesen Lügenbegriffen und auf dieser Scheinmoral basierende Sozial- und Wohlfahrtsstaat aufsteigt, so geht logischerweise die Geltung der echten, an die Einzelperson gerichteten Verhaltensimperative des christlichen Dekalogs nieder. Leider ist dieser Zusammenhang den modernen Politpfaffen unbekannt oder fremd geworden. Theologie versteht sich heute weitgehend als Götzendienst am Sozialstaat und als Zuhälterlehre für die große Hure Wohlfahrtsdemokratie. Das kommt freilich der sozialpathologischen Befindlichkeit des kirchlichen Rumpfklientels entgegen. ‘Centesimus annus’ bildet hiervon eine leider nur sehr flügellahme Ausnahme. Viele „sozialmarktwirtschaftlich“ orientierte Christen feiern die Enzyklika von Papst Johannes Paul II. als „Durchbruch“ der katholischen Kirche zu den sozioökonomischen Ordnungsstrukturen einer freien Gesellschaft. Dabei wird gerade die päpstliche Betonung der „sozialen Zähmung“ und „solidarischen Gestaltung“ des Marktes vehement begrüßt. In Wirklichkeit ist es ein Beleg für die ökonomische Ignoranz des Klerus, daß es erst des weltweiten Zusammenbruchs der sozialistischen Staaten bedurfte, um der katholischen Kirche endlich - nach Jahrzehnten der Verteufelung ökonomischer Rationalität - eine halbherzige und mit vielen Wenn und Abers versehene Annäherung an Markt, Unternehmertum und Wettbewerb abzuringen. Noch immer haben die Herren in Rom und ihre klerikalen Stäbe in aller Welt sehr wenig von jenen Kräften begriffen, die für das materielle (und damit vielfach auch das immaterielle) Elend auf dem Globus verantwortlich sind, und von jenen Kräften des Marktes, die als einzige in der Lage sind, die Menschen aus diesem Elend zu befreien. Gewiß, Gottes Reich ist nicht von dieser Welt, aber wenn die Kirche und ihre Vertreter gleichwohl immer weniger von Ihm und Seinem Reich - und dafür um so mehr von den irdisch-politischen Gefilden reden (und zwar zu Milliarden von Menschen), dann sollten sie sich wenigstens über die elementaren sozioökonomischen Funktionsmechanismen des irdischen Zusammenlebens kundig machen. Es steht zu befürchten, daß es erst zum (dem sozialistischen Bankrott folgenden) Anschlußkonkurs der „Sozialen Marktwirtschaft“ und des „Solidarischen Wohlfahrtsstaates“ kommen muß, bevor die Theologen wahrnehmen, daß die Nationalökonomie eine Wissenschaft ist, ohne deren (gründliche) Kenntnis man nicht ökonomische Himmelsweisheiten über den ganzen Erdkreis ausschütten sollte. Doch sei fairerweise zugestanden, daß sich die katholische Kirche um solcherlei Einsichten vermehrt zu mühen scheint. (Beim evangelischen Konkurrenten ist diesbezüglich - zumindest was die deutsche EKD anbetrifft - Hopfen und Malz schon lange verloren.) Gleichwohl markiert ‘Centesimus annus’ eine Art Revolution in der Beziehung zwischen (katholischer) Religion und (liberaler) Ökonomie, weil sie den fruchtbaren Dialog zwischen den beiden Sphären in einer bislang noch nie dagewesenen Weise eröffnet. Das wichtigste, was die Theologen bei diesem Dialog lernen sollten, ist die Einsicht in ihre eigene jahrhundertelange (und nun hoffentlich zu Ende gehende) Blindheit gegenüber der ethischen und humanen Dimension freier Menschen auf freien Märkten und das heißt auch: gegenüber der moralgenerierenden Substanz und moralpädagogischen Stringenz der Marktwirtschaft. Und das wichtigste, was die Ökonomen dabei lernen können, ist der Schöpfungsaspekt bei jener menschlichen Kreativität, die den Ausgangs- und Mittelpunkt ihrer wissenschaftlichen Thesen bildet. Natürlich ist es weder möglich noch notwendig noch wünschenswert, daß solche Annäherung jemals zu einer Art Deckungsgleichheit von Lehrinhalten führt, aber Erkenntnisgewinne werden beide Seiten allemal davontragen, und erstaunlich konvergierende Einsichten in das „was die Welt im Innersten zusammenhält“ ebenfalls. Schon das erste Symposion pro-marktwirtschaftlicher Wissenschaftler, das im Frühjahr 1996 - man höre und staune! - in den Mauern des Vatikan stattfand (Thema „Gefährdung und Zerfall der Familie“), endete mit dem verblüfften Konferenzresümee des Ökonomie-Nobelpreisträgers Gary S. Becker, es sei erstaunlich, welche Ähnlichkeiten sich hinsichtlich des Verhältnisses von Familie und Ökonomie in kirchlicher und wirtschaftswissenschaftlicher Sicht (auf voneinander unabhängigen Analysewegen) ergeben hätten. Doch ist solch unvoreingenommenes Zusammenfinden vorerst leider nur bei angelsächsischen Köpfen auszumachen. Während bei uns die Drewermänner den katholischen Glauben in den Hokuspokus einer psychologisierenden Esoterik und neoheidnischen Mythologie überführen wollen, haben herausragende amerikanische Theologen wie Michael Novak und Robert A. Sirico die kraftvollen Gemeinsamkeiten der christlichen Botschaft und der marktwirtschaftlichen Gesetze erkannt und leisten mutige Aufklärungsarbeit in den Rumpelkammern der überkommenen Dogmatik (aber gottlob nicht, was die originären Glaubensinhalte angeht, sondern hinsichtlich der klerikalen Interpretation des realen Weltgeschehens). Dazu gehören auch schmerzliche Einsichten wie das Novaksche Geständnis, daß über viele Jahrhunderte hinweg der Geist des Kapitalismus viel mehr zur Beseitigung von Unterdrückung und Armut geleistet habe als der Geist des Katholizismus. Und dazu gehören auch mutige Bekenntnisse wie die des großen spanischen Ökonomen Huerta de Soto: „Religion, nicht der Staat, ist das wichtigste Medium, das uns einen Sinn für unsere Verpflichtung vermittelt, Zusagen zu halten und das Eigentum anderer zu respektieren.” (Interview mit dem ‚Austrian Economic Newsletter’, Summer 1997). Mir scheint, daß beide, christlicher Glaube und liberale Ökonomie, noch viel voneinander lernen können, wenn sie erst einmal gelernt haben, einander ernst zu nehmen. |