Lichtschlag Bücher

Leseprobe: Lebenswerte (restlos ausverkauft / aus dem Programm genommen)

Oper

In der Oper transzendiere der Bürger zum Menschen, schrieb einst Theodor W. Adorno. Ihre Häme bezog diese Unterstellung aus dem Umkehrschluss: dass nämlich der Kurzzeit-Mensch sich nach dem Verlassen des Opernhauses ratzfatz wieder zum Bürger zurückdeformiere. Davon abgesehen, dass das befreite westliche Menschenkollektiv heute eine gewisse Sehnsucht nach einer Wiederkehr des Bürgers vernünftig erscheinen lässt, beschreibt der Begriff Transzendenz recht genau, worum es geht. Oper ist ein kollektiver Übertritt in Gefilde oberhalb der Normalität, sie ist das Theater der großen Gefühle, der Ort, an welchem Liebe, Hass, Angst, Religiosität, Verzweiflung, Entsagung, Treue und Ehre noch ultimativ sind. In der Oper wird das moderne Ich mit Figuren konfrontiert, die in keine Statistik passen, die eine Seele besitzen, für ihre Liebe oder ihren König sterben wollen, an Last-Minute-Angeboten und demokratischer Rhetorik nicht interessiert sind und dennoch zur selben Gattung gehören; hier darf das moderne Ich lernen, wie hoch der Mensch einst von sich und seinen Leidenschaften gedacht hat, bevor er Konsument wurde.

Es ist also nur selbstverständlich, dass diese Werke seit Jahrzehnten von den Zeitgeistwetterhähnen des sogenannten Regietheaters verhöhnt, angepinkelt, destruiert und letztlich abgeräumt werden (was inzwischen weit übler ist, als es weiheblöd-pathetische Aufführungen von anno dazumal je sein konnten). Wenn Parsifal am Ende des dritten Aufzugs in den Bundestag einzieht, wie 2008 bei den Bayreuther Narrenspielen zu betrachten, entspricht das der Logik einer Gesellschaft, deren Wortführer mit Transzendenz ungefähr so viel anzufangen wissen wie der Durchschnitts-Zentralalfrikaner mit Kondomen. Kaum eine Inszenierung, wo keine gegenwartsbezogene politische Symbolik auftaucht oder nicht auf der Bühne kopuliert wird. Schönheit? Trost? Bewunderung? Aber wo! Hierzulande addiert sich noch der spezifisch vorfahrenwerkszerstörerische Selbsthass der Kriegsverlierer-Nachkommen zum allgemeinen Gekaspere, so dass man als halbwegs kultivierter Mensch Opernhäuser generell meiden beziehungsweise sich vorher genau über die Inszenierung ins Bild setzen sollte. Eine hässliche und abgeschmackte Darbietung vermag nämlich ein Werk für lange Zeit quasi optisch zu kontaminieren, weil sich diese Bilder nicht mehr von ihrer Verbindung zu dieser Musik lösen lassen. Wenn der Regisseur kein Liebling der Feuilletons ist, kann man freilich auch immer wieder auf kluge und dem Werk angemessene Inszenierungen stoßen.

Die Behauptung, ich ginge gern in die Oper, gilt also mit starken Einschränkungen. Für mich existiert das Musiktheater heute vornehmlich als Jugenderinnerung und als Konserve. Dank letzterer, die einem zudem die Bekanntschaft mit dem künstlerischen Personal der vergangenen hundert Jahre ermöglicht, wäre ich gewiss auch dann ein Freund des Genres geworden, wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, viele Werke in Ostberliner Allerwelts-Inszenierungen kennenzulernen. Die erste Opern-Schallplatte, die ich mir als Teenager kaufte, war zufälligerweise gleich eine sogenannte Jahrhundertaufnahme, ein „Walküre“-Querschnitt mit Furtwängler, den Wiener Philharmonikern, Leonie Rysanek, Ludwig Suthaus und Ferdinand Frantz. Überwältigt von dieser Musik (und diesen Stimmen) hörte ich die Platte wieder und wieder, und meine Prenzlauer Berg-Hinterhofwohnung wurde zu Hundings Hütte und verwandelte sich in den Walkürenfelsen. Ich war sozusagen Wagnerianer vom ersten Takt an, und allmählich würde ich die Prognose wagen, dass mich die Liebe zu diesem weidlich-weihevollen wie weltwirksam-wunderwebenden Werk wohl auch bis ans Lebensende begleiten wird. Etwas später kam die ebenfalls bis heute anhaltende Leidenschaft vor allem für die Opern von Mozart und Richard Strauss sowie für die schmerzlichen Schönheiten des großen Nihilisten Giacomo Puccini auf und hinzu.

Parallel zur heimischen Initiierung via Schallplatte begaben sich die besagten Ostberliner Allerweltsinszenierungen. Das heißt, ich konnte in diese Zauberwelt eintreten, ohne dass sie mir jemand gezielt verleiden wollte; ich musste keine debilen Monarchen, keine SA-Uniformen, keine Sperrmüll-Sofas, keine Kaffeeautomaten und keinen fingierten Analverkehr auf der Bühne sehen.

So ist mir die ungetrübte Erinnerung an jenen Sechzehnjährigen geblieben, der ich gewesen bin und der nach dem Verlöschen der Kronleuchter auf den Flügeln der ersten Klänge der „Tannhäuser“-Ouvertüre von Wonneschauern überrieselt in irgendein Feenreich entführt wird, wo er vielleicht vor seiner Geburt bereits und seither bisweilen wieder gewesen ist. Oder jene an die tränenbedingte Unfähigkeit des dann schon jungen Mannes, nach „Madama Butterfly“ auch nur ein Wort hervorzubringen. Oder an desselben jungen Mannes Gefühl, soeben von einem Zug überrollt worden zu sein, nach dem Schlussakkord seiner ersten „Elektra“. Oder an das blonde Dummchen, das im „Figaro“-Finale, exakt an der Stelle, wo Mozart durch den Mund der Gräfin niemand anderen als Gott selbst sprechen lässt, mit der genervt gezischelten Frage „Wie lange geht das denn noch?“ mein Interesse an dieser Paarungskonstellation für immer beziehungsweise zumindest für den Abend einfror. Oder –

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