Lichtschlag Bücher

Leseprobe: Der Gesundheits-Affront

Frankfurter Plädoyer für herrschaftsfreie Medizin

Sehr geehrte Damen,
sehr geehrte Herren,
ich danke für die Einladung, heute bei Ihnen über Leninismus, Sozialismus und das deutsche Sozialgesetzbuch sprechen zu dürfen.

Nachdem meine Vorredner Sie bereits im Fußmarsch intensiv durch das Dickicht und Untergehölz namentlich des Vertragsarztrechtes und des Krankenhausrechtes für Ärzte geführt haben, möchte ich nun den Versuch unternehmen, gleichsam einen kleinen historischen Hubschrauberflug über diesen sozialrechtlichen Dschungel zu unternehmen. Denn aus dem Abstand besehen erschließen sich dem Betrachter häufig erst diejenigen Zusammenhänge, die – inmitten des Gestrüpps – verborgen bleiben.

Wegen der Nähe Ihres heutigen Veranstaltungsortes zu der langjährigen Wirkungsstätte des berühmten Neomarxisten Jürgen Habermas habe ich mich – in Ihrem vermuteten Einverständnis – entschlossen, meinen heutigen Ausführungen den Titel „Frankfurter Plädoyer für eine herrschaftsfreie Medizin“ zu geben.

Der Hintergrund ist einfach: Jürgen Habermas hat die Welt nicht nur unerquicklich durch marxistische Augen betrachtet, sondern weitaus erbaulicher (auch) die interessante Theorie des sogenannten „herrschaftsfreien Diskurses“ vertreten. Zur Wahrheit kann demnach nur ein solcher Diskurs unter Menschen führen, der nicht von Herrschafts- oder Machtinteressen einzelner Beteiligter gelenkt und beeinträchtigt wird.

Nach meinem Dafürhalten verhält es sich mit Medizin nicht anders: Nur dann, wenn sie frei von Herrschaft und Macht ausgeübt und in die freie Verantwortung von Ärzten (und Patienten!) gestellt ist, kann sie zu allseitigem Nutzen und allseitigem Wohle ausgeübt werden.

Ich habe an anderen Stellen in jüngerer Vergangenheit gegenüber Ärzten immer wieder darauf hingewiesen, dass eine „herrschaftsfreie Medizin“ – namentlich in der Gestalt frei abgeschlossener zivilrechtlicher Verträge zwischen Ärzten und Patienten – nichts Ungewöhnliches und nichts Ungehöriges ist. Nur Verträge zwischen Menschen entsprechen einem mitmenschlichen Beisammensein und einem Handeln mit Menschenmaß. Ich will heute versuchen, Ihnen zugleich zu vermitteln, dass die Situation, in der Sie sich derzeit als Kassen- und Krankenhausärzte befinden, ebensowenig außergewöhnlich und unvorhersehbar ist. Vielmehr ergibt sich diese Situation aus langfristigen gesellschaftspolitischen Weichenstellungen, die der „historische Hubschrauberblick“ recht deutlich erhellt.Ich möchte Ihnen zur Einstimmung ein kurzes Zitat zur Verlesung bringen und Sie mögen – während ich vorlese – spekulieren, aus welchem Munde es wohl stammt. Was glauben Sie: Ist es ein Rückblick eher von Renate Schmidt (SPD) oder von Ursula von der Leyen (CDU), wenn wir lesen: „Statt des 10- bis 12-stündigen Arbeitstages .... ist jetzt der 7-Stunden-Arbeitstag eingeführt, und einzelne .... arbeiten 6 Stunden und weniger am Tage bei einer sechstägigen Arbeitswoche, bzw. sie haben bei gleicher Arbeitsdauer die 5-Tage-Woche mit zwei arbeitsfreien Tagen; allgemein wurden gesündere Arbeitsbedingungen geschaffen; .... das Realeinkommen der Arbeiter in der Industrie und im Bauwesen ist .... gestiegen, die .... Verkürzung der Arbeitszeit in Rechnung gestellt; .... die Wohn- und Lebensbedingungen haben sich bedeutend verbessert; die Bildung ist allgemein und wird vom Staat finanziert; die Gesellschaft bestreitet einen bedeutenden Teil der Aufwendung für die Erziehung der heranwachsenden Generation. .... Die Zahl der Schüler in den allgemeinbildenden Schulen ist .... angewachsen; es wurde ein einheitliches System der Altersversorgung geschaffen. Die Renten werden vom Staat .... bezahlt. Das Rentenalter ist .... niedriger als in den meisten anderen Ländern; die kostenlose medizinische Betreuung und der Schutz von Mutter und Kind wurden eingeführt.“

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