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Leseprobe: Roter, brauner und grüner Sozialismus

Sozialistischer Antisemitismus

Damit war eine Tradition begründet, die Hannah Arendt als „Antisemitismus der Linken“ gekennzeichnet hat, für den die Annahme charakteristisch ist, „die Revolution würde gefördert, wenn die allgemeine Enteignung der Kapitalisten mit der Enteignung der jüdischen Kapitalisten begonnen würde, weil sie am typischsten für den Kapitalismus seien und ihre Namen den Massen am vertrautesten.“ In seiner Untersuchung, die sicherlich die vorzüglichste zum einschlägigen Thema darstellt, fasst Silberner die Formen des sozialistischen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts wie folgt zusammen: „Manche Sozialisten befürworteten besondere antijüdische Maßnahmen, angefangen von einem wirtschaftlichen Numerus clausus (Fourier) bis zu Entziehung der Staatsbürgerschaft (Picard). Andere waren für die Ausweisung aller Juden (Alhaiza), rechtfertigten Pogrome (Duchêne) oder riefen nach totaler Vernichtung (Dühring). Wieder andere sahen im Juden den ewigen Ausbeuter der Nichtjuden (Toussenel) und in der jüdischen Rasse den unversöhnlichen Feind der arischen (Tridon, Regnard) und ließen keinen Zweifel daran bestehen, dass sie antijüdische Maßnahmen wünschten, ohne sie aber ausdrücklich zu formulieren.“ Die antisemitische Argumentation der französischen Frühsozialisten und – nachdem der mainstream innerhalb der sozialistischen Bewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Anti-Antisemitismus überging – des (beginnenden) National-Sozialismus entsprach im Wesentlichen der von Marx formulierten Identifizierung von Kapitalismus mit dem Judentum oder zumindest mit dessen „Geist“. Dieses Verständnis verband sich mit der Vorstellung der totalitären Demokratie, die in der Französischen Revolution als Demokratievariante hervortrat und auf die letztlich der Sozialismus als Ideenströmung überhaupt zurückgeführt werden kann: Danach ist im Kapitalismus keine wirkliche Demokratie möglich, weil der Volkswille durch Institutionen verfälscht würde, die das „Kapital“ beziehungsweise das „Geld“ und damit „der Jude“ beherrsche oder zumindest manipuliere. Genau deshalb hatte sich der französische Frühsozialismus durch seinen Antisemitismus ausgezeichnet. Während die ersten Sozialisten, zu denen noch Adolphe Alhaiza und Pierre Leroux zu zählen wären, wohl noch nicht als Rassen-Antisemiten angesehen werden können – Fouriers Schüler schon ausgenommen – machte sich in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts unter den französischen Sozialisten ein aus gesprochener Rassenantisemitismus bemerkbar, „zuerst bei den Blanquisten, insbesondere Gustave Tridon und Albert Regnard, später teilweise unterstützt von Benoit Malon, Chefredakteur der Revue Socialiste, die häufig antisemitische Beiträge druckte.“

    Die generell dem Sozialismus zugrundeliegende Argumentationsweise, wonach der Kapitalismus dem Volkswillen entgegenstünde, führte bei Annahme, dass zumindest das „Finanzkapital“ oder „das Geld“ als „jüdisch“ gekennzeichnet werden müsse, zur Schlussfolgerung, dass „die Rothschilds“ oder überhaupt „die Juden“ die eigentlichen Herrscher Frankreichs seien. Diese Erklärung findet sich bei Alphonse Toussenel (1803-1885) in seinem einflussreichen Buch Les juifs, rois de l’ époque (1845). Danach beherrschen die Juden die Welt, indem sie das Finanzkapital kontrollieren. Auch der bei den Sozialisten in Frankreich ideologisch maßgebliche Pierre Joseph Proudhon (1809-1865) sah in den Juden und im Finanzkapital den verhassten Feind. „Wenn er öffentlich auftrat, war Proudhon vorsichtig. Privat nannte er die Juden die Feinde der menschlichen Rasse, denen man keinerlei Arbeit geben, die man aus Frankreich ausweisen und deren Synagogen man schließen sollte. Wie Toussenel wurde Proudhon durch seine anti-finanzkapitalistische Haltung zu einer rassistischen Einstellung getrieben. ‘Man muss diese Rasse nach Asien zurückschicken oder sie ausrotten’, erklärte er.“ Gustave Tridon (1841-1871) und Albert Regnard (1836-1903) stellten in Übereinstimmung mit dieser Verknüpfung von Antikapitalismus und rassistischem Antisemitismus den „arischen Sozialismus“ dem „semitischen Kapitalismus“ entgegen. Die beiden letztgenannten sind deshalb besonders bedeutsam, weil sie aktiv an der Pariser Kommune mitwirkten, Tridon im Komitee für öffentliche Sicherheit und Regnard als Generalsekretär der Pariser Polizei während der Kommune, die bekanntlich von den Marxisten als Modell für die zur Erreichung des Kommunismus notwendige „Diktatur des Proletariats“ verstanden wurde. Nach Regnard, den man noch nicht als Nationalsozialisten kennzeichnen kann, sondern der noch den sozialistischen mainstream repräsentierte, seien die Juden „Wucherer“ ihrer Rassennatur nach und nicht nur durch die Umstände bedingt, die sie dazu gezwungen hätten, und demnach stelle der Kapitalismus in hohem Maße eine semitische Schöpfung dar. „Der Sozialismus habe realistisch zu sein und die Idee des Rassenkampfes anzunehmen. Er müsse die höhere arische Rasse gegen die Angriffe der ‘bedauernswert niedrigeren’ jüdischen Rasse verteidigen, die alles daran setze, den Reichtum der Welt an sich zu reißen.“ Als Mittel des notwendigen, gegen die Juden gerichteten Rassenkampfes wurde allerdings der wissenschaftliche Sozialismus angesehen, „eine frankogermanische Schöpfung, das heißt arisch im wahrsten Sine des Wortes“. Dazu musste aber anerkannt werden, dass Marx und Lassalle keine Juden im rassischen Sinne gewesen seien, ein Lob, nach dem sich beide leidenschaftlich gesehnt hatten; sie waren, wie der große belgische Sozialist und Antisemit Picard ausführen sollte, „nicht mehr authentische Juden als Jesus Christus, der Arier par excellence und größte der arischen Reformer“. Hinsichtlich Jesu sollte auch der NS diese Auffassung vertreten, die ja schon auf den „Erzketzer“ Marcion zurückgeht, der Jesus nicht als Sohn des „Judengottes“, sondern der wirklichen (Ur-)Gottheit begreifen wollte, die Hitler wohl (sicherlich unbewusst) meinte, wenn er von „Vorsehung“ sprach.

    Tridon und Regnard waren Schüler des ewigen Putschisten Auguste Blanqui, dessen Bewegung aufgrund ihrer Entschlossenheit zum politischen Terrorismus sich einst der größten Wertschätzung der Humanisten Marx und Engels hatte erfreuen können. Die Blanquisten, die wohl als die treibende politische Kraft der Pariser Kommune angesehen werden müssen, wechselten in ihrer Mehrheit unter Ernest Granger schließlich zum nationalen Sozialismus über, der sich gerade durch seine antisemitischen Tendenzen auszeichnete. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts übernahm ihr Führer Ernest Roche das Ideal des Nationalsozialisten Drumont „und proklamierte gleichzeitig die Solidarität der Arbeiter.“ Mit Edouard Drumont (1844-1917) beginnt dann in der Tat das Zeitalter des Nationalsozialismus, der als solcher identifiziert werden kann, seit sich, wie gleich darzustellen ist, der sozialistische mainstream dem Anti-Antisemitismus verschrieb, während die entsprechenden gleichgerichteten Auffassungen, wie diejenigen von Tridon und Regnard eben noch diesen mainstream zugerechnet werden können und daher kaum aufgefallen waren. Die Anhänger Drumonts bezogen sich auf die Französische Revolution, was zwar einem FAZ-Kommentator als „absurd“ erscheint, es aber dann nicht ist, wenn man akzeptiert, dass dieses Ereignis auch als eine Art Rassenkampf (insbesondere der Gallier gegen die Germanen) verstanden worden ist. Die Drumont-Anhänger bezogen sich im übrigen auch auf die Pariser Kommune, die ihnen Vorbild für eine (so wird man dies später nennen) „völkische“ (Volks-) Demokratie mit starker Führung war. Aufgrund der positiven Bewertung der Pariser Kommune durch den französischen Nationalsozialismus stießen auch Henri Rochefort, der Herausgeber von Intransigeant, und die Anarchistin Louise Michel, die wegen ihrer Aktivitäten für die Kommune abgeurteilt waren, zu Drumont: „Nun drängte der Nationalismus, der in diesem Aufstand eine Rolle spielte, in den Vordergrund, verquickt mit einer guten Prise Antisemitismus, ja Rassismus, und einer unheilbaren Neigung zur Gewalt.“ Ein national-sozialistisches Programm konnte dann erstmals im französischen Algerien verwirklicht werden, wo Max Régis zum Bürgermeister von Algier gewählt wurde, wenngleich der französische Gouverneur ihn dann bald seines Amtes enthob, weil er Plünderungen und Brandschatzungen jüdischer Geschäfte inszenierte, nachdem er die Algierer (also die Kolonialfranzosen) dazu aufgerufen hatte, den „Baum der Freiheit mit jüdischem Blut zu gießen.“

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