Lichtschlag Bücher

Leseprobe: Sozialdemokratische Zukunftsbilder

Die Siegesfeier

Die rote Fahne der internationalen Sozialdemokratie weht vom Königsschloss und allen öffentlichen Gebäuden Berlins. Wenn solches unser verewigter Bebel noch erlebt hätte! Hat er uns doch immer vorausgesagt, dass die „Katastrophe schon vor der Tür steht.“ Noch erinnere ich mich, als ob es gestern gewesen wäre, wie Bebel am 13. September 1891 in einer Versammlung zu Rixdorf in prophetischem Tone ausrief, dass „eines Tages der große Kladderadatsch schneller kommen würde, als man es sich träumen lasse.“ Friedrich Engels hatte kurz vorher das Jahr 1898 als dasjenige des Triumphs der Sozialdemokratie bezeichnet. Nun, ein wenig länger hat es doch noch gedauert.

Aber gleichviel, unsere langjährigen Mühen und Kämpfe für die gerechte Sache des arbeitenden Volkes sind nunmehr durch den Erfolg gekrönt worden. Die morsche Gesellschaftsordnung des Kapitalismus und des Ausbeutersystems ist zusammengebrochen. Meine Aufzeichnungen sollen, so gut ich es vermag, die Auferstehung des neuen Reiches der Brüderlichkeit und der allgemeinen Menschenliebe für meine Kinder und Kindeskinder beschreiben.

Auch ich habe meinen Anteil an der Wiedergeburt der Menschheit. Was ich während eines Menschenalters an Zeit und Geld als rechtschaffener Buchbindermeister erübrigen konnte und
nicht für meine Familie bedurfte, habe ich der Förderung unserer Bestrebungen gewidmet. Der sozialdemokratischen Literatur und unseren Vereinen verdanke ich die Festigkeit in unseren Grundsätzen und die geistige Fortbildung. Frau und Kinder sind mit mir eines Sinnes. Das Buch unseres Bebels über die Frau ist längst das Evangelium meiner Paula gewesen.

Der Geburtstag der sozialdemokratischen Gesellschaft war unser silberner Hochzeitstag. Der heutige Siegestag hat zu neuem Familienglück den Grund gelegt. Mein Franz hat sich mit Agnes
Müller verlobt. Die beiden kannten sich schon lange und lieben sich herzinnig. In der gehobenen Stimmung des heutigen Tages wurde der neue Bund geschlossen. Beide sind zwar noch etwas
jung, aber tüchtige Arbeiter in ihrem Fach. Er ist Setzer, sie Putzmacherin; da wird es hoffentlich nicht fehlen. Sobald die neue Ordnung in den Arbeits- und Wohnverhältnissen eingetreten ist,
wollen sie heiraten.

Wir alle wanderten nach Tisch hinaus „Unter die Linden“. War das dort ein Menschengewühl, ein Jubel ohne Ende. Kein Misston störte die Feier des großen Siegestages. Die Schutzmannschaft ist aufgelöst. Das Volk hält selbst die Ordnung in musterhafter Weise aufrecht.

Im Lustgarten, auf dem Schlossplatz, an der früheren Schlossfreiheit stand dichtgedrängt die Menschenmenge fest wie eine Mauer. Die neue Regierung war im Schloss versammelt. Die Genossen von der bisherigen Parteileitung der Sozialdemokraten haben provisorisch die Zügel der Regierung ergriffen. Unsere sozialdemokratischen Stadtverordneten bilden bis auf weiteres das Magistratskollegium der Stadt. Sobald sich einer der neuen Regenten am Fenster oder auf dem Balkon des Schlosses zeigte, brach der Jubel des Volkes immer aufs neue los: Hüteschwenken, Wehen mit den Tüchern, Gesang der Arbeitermarseillaise.

Abends prachtvolle Illumination. Die Statuen der alten Könige und Feldherren nahmen sich, mit roten Fahnen geschmückt, in der roten bengalischen Beleuchtung seltsam genug aus. Sie werden nicht mehr lange auf ihrem Platz bleiben, sondern den Statuen der verstorbenen Geistesheroen der Sozialdemokratie weichen müssen. Es soll schon beschlossen sein, vor der Universität an Stelle der Statuen der beiden Gebrüder v. Humboldt die Statuen von Marx und Ferdinand Lassalle aufzurichten. Das Denkmal Friedrichs des Großen Unter den Linden wird durch die Statue unseres verewigten Liebknecht ersetzt werden.

In trautem Familienkreise feierten wir noch zu Hause bis in die späte Nacht den für uns doppelt feierlichen Tag. Auch der Vater meiner Frau, unser Hausgenosse, welcher bisher von der Sozial-
demokratie nicht viel wissen wollte, war sehr anteilvoll und aufgeräumt.

Bald hoffen wir, unsere bescheidene Wohnung, drei Treppen hoch, verlassen zu können, von mancher stillen Freude, auch von mancher Sorge, vielem Kummer und harter Arbeit sind die alten
Räume im Laufe der Jahre Zeuge gewesen.

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